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DIE BALLADE VOM ANGEMALTEN VOGEL

DER VERSTÖRENDSTE KINOFILM DES JAHRES: "THE PAINTED BIRD" (2019)


von Julian Stockinger


© Cinema Obscure


Der neue Film des tschechischen Regisseurs Václav Marhoul spielt in dieser Liga von Werken, bei denen man heilfroh ist, wenn sie überstanden sind und trotzdem beeindruckt sagen kann: Was für ein Film! Und das, obwohl sich der Bauch vor lauter körperlicher Anspannung und Verkrampfung zu dieser Zeit noch nicht in Sicherheit wiegen wird. Ja, „The Painted Bird“ ist mit großer Wahrscheinlichkeit der verstörendste Kinofilm des Jahres 2021.


Osteuropa im Zweiten Weltkrieg. Ein jüdischer Junge, dessen Großmutter stirbt und der fortan auf sich alleine gestellt ist, kämpft sich durch diese unmenschliche Zeit. Er trifft dabei vor allem auf Leute, die weder ihm, noch irgendjemandem gut gesonnen sind. Trotzdem ist er auf die erwachsenen Menschen angewiesen, weil sie ihm ein Dach über dem Kopf und ab und an auch eine warme Mahlzeit bieten können. Der Preis, den er dafür zahlen muss, ist horrend und die vermeintlich Schutzbietenden werden von Tag zu Tag sadistischer. Das Kind, dessen soziale Struktur mit einem Mal weggebrochen ist, findet keinen Anschluss mehr an eine Welt, in der jeder und jede nur auf die eigenen, zuweilen abartigen Bedürfnisse fokussiert ist. Ausbeutung, Demütigung, Gewalt und Missbrauch prägen seine Tage fortan.


Die Romanverfilmung „The Painted Bird“ legt bereits in der allerersten Szene offen, womit man es hier zutun hat und versucht erst gar nicht, von seinem Publikum (bedingungslos) gemocht zu werden. Denn bereits in Minute zwei dieses fast dreistündigen Films, sehen wir, wie ein handzahmes Frettchen, welches aus dem schützenden Griff unseres Protagonisten gerissen wurde, bei lebendigem Leib verbrannt wird. Diese Szene, die so realistisch und nah wirkt, dass man sich unwillkürlich fragt, ob hier wirklich ein Frettchen verbrannt wurde, sorgt für die eingangs erwähnte Verkrampfung seitens des Publikums, die den ganzen Film nicht lockerlassen will.


Im Kontrast zur verstörenden Geschichte, stehen die in Schwarz/Weiß gehaltenen und auf analogem Filmmaterial eingefangenen Landschaftsaufnahmen, die dieser Film von Beginn an bietet. Die unberührt wirkende Natur, die satten Wälder und die fruchtbaren Weiden lenken aber immer nur für sehr kurze Zeit von den Gräueltaten ab, die „The Painted Bird“ laufend abbildet. Fast schon einer Farce gleichend, verpasst uns Regisseur Marhoul abwechselnd Schläge in die Magengrube und stützende Händchen für die fallenden Kinnladen. Für Momente der Hoffnung, des Aufatmens oder gar der Zärtlichkeit wird hier nur wenig Zeit eingeräumt.


Wunderschön und bis an die Grenze des Erträglichen verstörend ist auch ein anderer osteuropäischer Film: „Komm und Sieh“ (1985) von Elem Klimow gilt für viele als bester (Anti-) Kriegsfilm aller Zeiten. Auch wenn „The Painted Bird“ diese Qualität und Intensität nicht erreicht, sind die Parallelen dieser Filme nicht zu übersehen. Dass sich auch Regisseur Marhoul dessen bewusst ist, wird spätestens im letzten Drittel von „The Painted Bird“ klar, als unser Protagonist unter die zur Abwechslung wohlgesinnten Fittiche eines kommunistischen Offiziers gerät. Denn dieser wird von niemand geringerem als Aleksei Kravchenko verkörpert, dem russischen Schauspieler, der in „Komm und Sieh“ den jungen Protagonisten spielte und dessen Gesicht, wenn man den Film einmal gesehen hat, niemals wieder vergessen werden kann.


Aber auch der restliche Cast kann sich sehen lassen. Udo Kier als impotenter Patriarch, der seinem vermeintlichen Konkurrenten die Augäpfel mittels Suppenlöffel entfernt. Harvey Keitel als Priester, der auf Kosten des Jungen feststellen muss, dass „gut gemeint“ nicht zwingend „gut gemacht“ heißt. Stellan Skarsgård und Barry Pepper – einmal Nazi, einmal Kommunist – die zu den wenigen Menschen in diesem Film zählen, die dem Jungen etwas Menschlichkeit entgegenbringen. Und nicht zuletzt unser Protagonist selbst: der junge Petr Kotlár, der die Unmenschlichkeiten, denen er unterliegt, zunehmend apathisch und ausdruckslos über sich ergehen lässt.


© Cinema Obscure


Die Erzählstruktur von „The Painted Bird“ gleicht einer Ballade, deren jeweiligen Strophen stets die gleiche, zermürbende Erkenntnis in sich tragen und das Publikum daran zweifeln lassen, dass sich je etwas daran ändern wird. Die Stationen des Jungen, dessen Namen wir sehr lange Zeit nicht erfahren, sind auch die Kapitel im Film, die wiederum die Namen der Menschen tragen, bei denen er für kurze Zeit „Zuflucht“ findet. In einer dieser Zwischenstationen begegnen wir dem titelgebenden, angemalten Vogel, der von seinem Fänger wieder freigelassen wird. Es ist eine unheimlich bildgewaltige Szene, die uns gleichzeitig die Moral dieser Geschichte eiskalt erfahren lässt. Denn dieser in die Freiheit entlassene Vogel wird sofort von einem ganzen Schwarm seiner Art attackiert und zur Strecke gebracht. Auch unser Protagonist wurde aus seiner gewohnten, sozialen Struktur gerissen, um von seinesgleichen, also den Menschen am Land, denen er begegnet, dafür bestraft zu werden.


„The Painted Bird“ ist eine Zumutung. Die Hoffnungslosigkeit, die sich nach bereits wenigen, überstandenen Kapiteln breitmacht, läuft Gefahr, dass nicht nur im Gesicht des Jungen, sondern auch beim Publikum Gleichgültigkeit einsetzt. Doch dann kommt der nächste Schlag in die Magengrube, gefolgt von der nächsten Landschaftseinstellung, die einem Gedicht gleicht und weg ist sie, die Gleichgültigkeit. Weg ist sie, die Entspannung im Magenbereich. Ja, „The Painted Bird“ ist wahrlich eine Zumutung.


Dank dem Filmverleih Drop-Out Cinema läuft "The Painted Bird" in den Kinos, sobald diese wieder Gäste empfangen dürfen.


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