IN MEMORIAM NOBUHIKO OBAYASHI: KILLER-KLAVIERE, MÖRDER-MATRATZEN, GIGANTISCHE GESICHTER
(BRUCHSTÜCKHAFTE) ERINNERUNGEN AN "HAUSU"
von Daniel Krunz

Weiße Katze statt weißer Hai: "Hausu" (1977)
Wie fasst man einen Film in Worte, der im positivsten Sinn jeder Beschreibung spottet? Kein leichtes Unterfangen, dennoch lassen wir es uns nicht nehmen, uns anlässlich des Ablebens von Nobuhiko Obayashi, der letzte Woche 82-jährig verstarb, an sein kultiges Zentralwerk „Hausu“ (1977) zu erinnern. Wir haben diesen Film natürlich schon vor der traurigen Nachricht fest ins Herz geschlossen und im Rahmen eines Special Screenings der Til Midnight Movies im Jänner erst im schikaneder Kino gezeigt.
Es war ein überaus geselliger Abend, auf den wir angesichts der aktuellen Lage in doppelter Hinsicht wehmütig zurückblicken. Die Reihen waren dicht gefüllt mit Freund*innen des Kultstreifens und neugierigen Neulingen, die endlich Zeuge des vielbesprochenen Spektakels werden wollten. Doch auch wir, die den Film ausgesucht hatten, konnten über selbigen wieder Neues lernen und das bereits im Vorfeld des Screenings. Für die Bewerbung des Ereignisses posteten wir in regelmäßigen Abständen Stills aus dem Klassiker und kamen nicht umhin festzustellen, dass jedes dieser Standbilder so wirkt, als wäre es einem gänzlich anderen Film entnommen. Dies ist wohl auch bereits ein entscheidender Clou zur Charakterisierung von „Hausu“: Er ist mehr als nur ein Film, er ist viele Filme in einem, ein buntes Potpourri aus Fragmenten, aber trotzdem mehr als die Summe seiner Einzelteile.
Die unverdächtige Prämisse klingt auf den ersten Blick zunächst verdächtig nach Horror: Die sechzehnjährige Oshare besucht in den Sommerferien mit sechs Schulfreundinnen ihre Tante auf dem Land. Die alte Dame freut sich über den Besuch der Mädchen, doch bald schon häufen sich merkwürdige Ereignisse im alten Landhaus und werfen unangenehme Fragen auf.

Kumiko Ohba und (ein Teil von) Mieko Sato in "Hausu" (1977)
Den Assoziationen, die diese Inhaltsangabe wecken mag zum Trotz, wird es aber tatsächlich selten wirklich gruselig, dafür aber umso verrückter, wenn Obayashi fröhlich zwischen dadaistischer Komik, Slapstick-Splatter und mangaeskem Schulmädchen-Kitsch umherspringt. So vielfältig die erwähnten Motive, so divers fällt auch seit jeher die Rezeption aus. Interpretationen sprechen mal von einer Coming- of-Age Allegorie mit massenhaft Menstruationsmetaphern, mal von anarchischer Dekonstruktion von Sehgewohnheiten und Obayashi selbst sah seine Arbeit stets vordergründig als Verarbeitung des Atomschlags gegen seinen Geburtsort Hiroshima.
Und auch wenn all diese Beobachtungen einem wahren Kern zugrunde liegen mögen, macht es bei einem Film dieses Formats nur bedingt Sinn, Deutungsansätze zu forcieren, da diese ganz besonders auf subjektive Wahrnehmungen beruhen, denn jede*r nimmt aus „Hausu“ etwas Anderes mit. Aus diesem Grund sollen zunächst einmal die Fakten auf den virtuellen Tisch geknallt werden, denn auch über diese verfügt Obayashis Opus zur Genüge.
„Hausu“ ist ein Film mit einer Geschichte und damit ist weniger die oben beschriebene, zugegeben minimalistische Story, als vielmehr die History des Ausnahmewerks gemeint, die bereits zwei Jahre vor seiner Veröffentlichung, nämlich 1975 mit einem Namen beginnt, den man vorerst wohl nicht gleich mit ihm assoziiert, nämlich Steven Spielberg. „Jaws“, zu Deutsch „Der weiße Hai“ gilt ja bekanntlich als Geburtsstunde des modernen Blockbuster Kinos und hat weltweit eine lange Reihe von Nachahmern inspiriert. Auf der Welle, die das monströse Meeresraubtier in Gang setzte, wollte verständlicherweise auch Japan, das mit ikonischen Leinwandungeheuern ja bereits jahrzehntelange Erfahrung hatte, mitschwimmen. Hierfür brauchte es zuallererst natürlich ein gutes Drehbuch und wer kennt sich mit Trends und Moden besser aus, als die Werbeindustrie? So dachte zumindest Toho, die Produktionsfirma, die der Welt Godzilla schenkte und beauftragte den Werbe- und Experimentalfilmer Nobuhiko Obayashi damit, ein an „Jaws“ angelehntes Script zu verfassen.

Fantasy (Kumiko Ohba), Prof. (Ai Matsubara), Kung Fu (Miki Jinbo) und Gorgeous (Kimiko Ikegami) in "Hausu" (1977)
Wer das Ergebnis kennt, weiß, dass Obayashi die Vorgabe sehr genau nahm, man muss sich lediglich den Hai als ein Haus und die Haijäger*innen als ein Schulmädchen-Septett vorstellen, wenn so viel wohlwollender Sarkasmus erlaubt ist. Apropos Schulmädchen: Es kommt ja nicht gerade selten vor, dass männliche Autoren Frauenfiguren als wandelnde Klischees schreiben, so auch geschehen bei Obayashi. Hier allerdings ganz bewusst und spielerisch, wenn er die besagten Mädchen schon bei ihrer Namensgebung auf eine zentrale Charaktereigenschaft festschreibt, so erleben wir etwa die liebreizende Gorgeous, die musikalische Melody oder die schlagfertige Kung Fu. Bei aller Oberflächlichkeit thematisiert er aber trotzdem authentische Ängste junger Mädchen, denn ein solches war ihm beim Schreiben behilflich, nämlich seine damals zehnjährige Tochter, die ihrem Vater ihre Ängste, Fantasien und Albträume erzählte und für zahlreiche Szenarien, die in das finale Werk Einzug hielten, die Ideen lieferte.
Das fertige Drehbuch hatte dann eben nur mehr marginal mit „Jaws“ zu tun, wurde vom Studio aber überraschenderweise sogleich akzeptiert und erst einmal unter potentiellen Regisseuren herumgereicht, landete letztendlich aber wieder in Obayashis Händen, nachdem es niemand verstanden hatte und niemand realisieren wollte. Leise Bedenken ob der Publikumstauglichkeit des Projekts wurden laut und so startete vorerst eine zweijährige, multimediale Testphase, in der die Geschichte mittels einer Manga-Heftreihe und eines Radiohörspiels der Öffentlichkeit erzählt wurde. Beide Erscheinungsformen fanden großen Anklang bei Japans Jugend, bis Toho auch über den letzten Zweifel erhaben, Obayashi grünes Licht für die Produktion erteilte.
Dies war das denkbar Beste, das passieren konnte, denn der Rest ist, um auch einmal diesen Allgemeinplatz zu bemühen, Geschichte und Obayashi drehte einen Film, den einzig und allein er drehen konnte. Die Skurrilität der Vorgeschichte gibt nämlich nicht einmal ansatzweise die Skurrilität des Endprodukts wieder. Und um in der Sentimentalität über den Verlust Obayashis letztlich doch ein wenig subjektive Einschätzungen zu verlieren, sei folgende Bemerkung erlaubt: „Hausu“ ist ein einzigartiges Erlebnis von einem Film. Er trägt nicht nur optische Züge von Obayashis Stammmetier, der Werbung, sondern verfährt auch erzählerisch wie ein Werbefilm, der nicht unbedingt das Produkt, in diesem Fall die Story in den Vordergrund stellt, sondern vielmehr darum bemüht ist, Stimmungen, Emotionen und Assoziationen zu schaffen und unter der lauten Kakophonie infantiler Irrationalität tatsächlich auch nachdenkliche Töne anspielt.

Miki Jinbo in "Hausu" (1977)
Etwas polemischer ausgedrückt: Kein anderer Film schafft es, die Episoden eines psychedelischen Nonstop-Rausches um menschenfressende Klaviere, schwebende Köpfe, die ihn Hintern beißen und Menschen, die sich in Bananen verwandeln in einem nicht minder surrealen, doch zugleich stimmungsvoll-romantischen Finale zu versöhnen. „Hausu“ spielt nicht nur mit bekannten Märchenmotiven, sondern schafft auch ein neues, modernes Märchen, das wie seine historischen Vorläufer, unterschwellig realweltliche Grundwahrheiten kommuniziert und unsere kindliche Begeisterungsgabe wiedererweckt.
Die Erfolgsgeschichte des experimentellen Kinofilms, der von einem großen Studio gefördert wurde, ist wiederum ein sehr schöner Beleg dafür, dass sich Kunst und Kommerz, Kreativität und Kalkül nicht ausschließen und auch Individualität Massentauglichkeit besitzen kann. Nobuhiko Obayashi hat ein abstraktes Kunstwerk auf die Leinwand gezaubert, das Klischees gleichzeitig persifliert und liebevoll umarmt. Mit „Hausu“ hat er eine überragende Wegmarkierung in der Filmgeschichte hinterlassen, in der seine einzigartigen Visionen weiterleben.