IRREFÜHRENDES MARKETING EINES RADIKALEN GENRE-MASHUPS
DIE FILMSTOCK-KRITIK ZU "PELIKANBLUT"
von Julian Stockinger

© SLASH Filmfestival
Katrin Gebbe beweist, nach ihrem Spielfilmdebüt TORE TANZT (2013), einmal mehr, dass sie eine der mutigsten Filmemacher*innen des gegenwärtigen deutschen Kinos ist. Ihr neuer Film PELIKANBLUT funktioniert als Melange aus Familiendrama und Besessenen-Horror, wobei Letzteres überhaupt keinen Einzug in den deutschen Trailer gefunden hat. So wird PELIKANBLUT als Studie eines traumatisierten Kindes à la SYSTEMSPRENGER (2019) gehandelt, was dem Film nicht ganz gerecht wird.
Wiebke (großartig gespielt von Nina Hoss) ist alleinstehend und berufstätig, was sie rechtlich daran hindert, Kinder innerhalb von Deutschland zu adoptieren. Deswegen begibt sie sich, nach ihrer ersten Adoption von Nicolina (Adelia-Constance Ocleppo), erneut ins Ausland, um dort die fünfjährige Raya (Katerina Lipovska) zu treffen und ihr ein neues zu Hause in Deutschland zu bieten. Der anfangs ganz unschuldig wirkende Familien-Neuzugang, erweist sich von Tag zu Tag als zunehmend problematisch. Wenn der kleinen Raya was nicht passt, dann fliegt schnell mal ein Teller. Oder ein Tisch. Oder die Kinder im Kindergarten müssen herhalten. Und das ist erst der Anfang eines hochgradig destruktiven Familiengeflechts.
Zugegeben, wer SYSTEMSPRENGER gesehen hat, wird wohl an der ein oder anderen Assoziation nicht vorbeikommen. An der narrativen Oberfläche handeln beide Filme von einem traumatisierten Kind, das seinem sozialen Umfeld Kopf- und Herzzerbrechen bereitet. Doch darunter fußen die Werke auf ganz und gar unterschiedlichen Emotionsmechanismen, was mitunter mit der Art der dargestellten Erziehungsformen zu begründen ist.
Benni in SYSTEMSPRENGER befindet sich den ganzen Film über in einer Form der langfristigen Fremdunterbringung, weil seine Mutter aus diversen Gründen nicht imstande ist, sich adäquat um ihr Kind zu kümmern. Der Film erzeugt seine unangenehme Wirkung mitunter aus dem Spannungsfeld, in dem sich Sozialarbeiter*innen immer befinden: Die Gradwanderung zwischen Unterstützung und Kontrolle stellt kein leichtes Unterfangen dar und die professionelle Abgrenzung, die der Beruf erfordert, ist insbesondere in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen eine tägliche Herausforderung.
Professionelle Abgrenzung gibt es im Fall von PELIKANBLUT nicht und natürlich wäre sie dort auch fehl am Platz. Ein wenig mehr Distanz würde der Mutter zu ihrem neuen Kind, im Laufe des Films, allerdings nicht schaden. Die – vorsichtig ausgedrückt – temperamentvolle Raya wird nämlich sukzessive zu einem unheimlich viel Zeit in Anspruch nehmenden Projekt der Mutter, was zur Vernachlässigung der anderen Tochter und absurd erscheinenden Interventionen in Sachen versuchten Bindungsaufbaus führt. „Projekt“ ist in diesem Zusammenhang natürlich ein wahnsinnig zynisches Wort, aber im Kontext des Films nicht ganz falsch, was mitunter ein Grund dafür ist, dass PELIKANBLUT definitiv keinen Crowdpleaser darstellt. Im ganzen Film geht es nämlich weniger um Erziehung, als vielmehr um Zähmung.
Wiebke arbeitet als professionelle Pferdeflüsterin auf einem Reiterhof, wo Polizist*innen und Pferde dazu ausgebildet werden, demonstrierende Menschen – freundlich ausgedrückt – im Zaum zu halten. Eines der Pferde heißt Top Gun und kann wohl als Problempferd bezeichnet werden. Top Gun liegt Wiebke besonders am Herzen und die herausfordernde Arbeit erfüllt sie offensichtlich mit Stolz. Nun sollte man Menschen nicht mit Tieren vergleichen. Auf „sollte man“ gibt Regisseurin Katrin Gebbe aber nicht viel und so erregt dieser wenig subtile Vergleich definitiv die vermutlich nicht ersten Irritationen während des Films. Insbesondere in Anbetracht der Tatsache, dass Wiebke selbst bindungsunfähig zu sein scheint und ihr exzessives Bemühen um andere Menschen (und Tiere) wie eine Kompensierung ihres eigenen Mangels wirkt.
Der am Lautesten schreiende Unterschied zu SYSTEMSPRENGER ist aber natürlich der Einsatz von Horrorelementen. Die spitzen sich zwar erst gegen Ende gravierend zu, begleiten das Geschehen aber auf überraschend harmonisch eingewobene Art und Weise von Anfang an. So erfahren wir zum Beispiel, durch ein Relief, das in der osteuropäischen Waisenstation hängt, was es mit dem titelgebenden Pelikanblut auf sich hat. Es wird erklärt, dass die Pelikanmutter im Bild, durch Blut aus ihrer Brust, die eigenen Kinder wieder zum Leben erweckt. Ein Symbolbild also, für eine aufopfernden Mutter, die bereit ist, für ihre Kinder alles zu tun. Wie nah dieses Bild Wiebkes baldiger Realität kommen wird, kann in diesem Moment nur erahnt werden.
Katrin Ebbe wird mit ihrem zweiten Spielfilm das Kinopublikum polarisieren. Menschen, die TORE TANZT kennen und über Ebbes Hang zur Radikalität bescheid wissen, werden aller Wahrscheinlichkeit nach auf ihre Kosten kommen. Menschen, die sich aber von einem Trailer locken lassen, der tatsächlich eine ganz und gar andere Stimmung verspricht, als der Film letztlich bietet, werden im besten Falle verstört, aber vielfach sicherlich auch verärgert aus dem Saal gehen. Zumal das grandiose Finale und die provokante Auflösung reichlich Stoff für hitzige Debatten bieten.
PELIKANBLUT startet am 24. September 2020 in den deutschen Kinos.