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KOREANISCHES KINO VOR DER WELLE #1: DIE 70er

von Julian Stockinger

"Woman of Fire" (1971)


So großartig Bong Joon-ho‘s „Parasite“ (2019) auch ist: Für die Erkenntnis, dass Südkorea kinotechnisch eines der spannendsten Länder der Welt darstellt, hätte es ihn nicht gebraucht. Soviel sollte bereits seit seinem Frühwerk „Memories of Murder“ (2003) und Park Chan-wooks Rache-Trilogie (2002-2005) klar gewesen sein. Beide Regisseure haben in der „Koreanischen Neuen Welle“ maßgeblich mitgewirkt und Chan-wook kann mit seinem Spielfilmdebüt „Joint Security Area“ (2000) sogar als deren Mitbegründer gesehen werden. Dabei kann man die Welle, die den Schwapp in die westliche Hemisphäre geschafft hat, nicht als alleinstehendes Phänomen betrachten: Sie fußt auf jahrzehntelanger Kinogeschichte, die hierzulande kaum Beachtung findet. Was schade ist!


Das südkoreanische Filmarchiv stellt seit bald drei Jahren Klassiker des koreanischen Films gratis auf YouTube zur Verfügung. Mittlerweile können wir von mehr als 200 Titeln sprechen, die fast alle mit englischen Untertiteln ausgestattet sind. Im Rahmen einer Beitragserie, nähere ich mich dieser Unzahl an und spreche gleichzeitig Empfehlungen aus.


Die zwei gegensätzlichen Frauen bei Kim Ki-young.

Meine Reise durch das koreanische Film-Jahrzehnt der 70er beginnt mit Regisseur Kim Ki-young. Diesen kennt man fast ausschließlich von seinem 1960 erschienenen Thriller „The Housmaid“. Kaum bekannt ist, dass er diesen Stoff ein weiteres Mal interpretiert hat, und zwar im Jahr 1972 mit „Woman of Fire“, ein Film, in dem es um eine nicht ganz einfache und nicht immer freiwillig ablaufende Dreiecksbeziehung zwischen einem Ehepaar und der Hausangestellten geht – die tödlich endet.


Während das Original mit ästhetischen schwarz/weiß-Bildern aufwartet, protzt das zwölf Jahre später erschienene Folgewerk geradezu mit Farbe. Ja, es scheint fast undenkbar, dass sich Ki-young nicht die dunkelbunten Farbwelten Mario Bavas zur Vorlage genommen hat. Und auch der Vergleich mit Argentos „Suspiria“ (1977) hinkt nicht, denn beide Filme spielen fast ausschließlich in einem sehr bewusst in Szene gesetzten Haus, das hie und da so wirkt, als würde es ein Unheil versprechendes Eigenleben führen.


Myeong-ja (Youn Yuh-jung) in "Woman of Fire" (1971)


Das ebenfalls von Ki-young in die Welt gesetzte Gegenstück zu „Woman of Fire“ ist – wie könnte es anders sein – „Woman of Water“ von 1979. Darin kehrt ein traumatisierter und verletzter Soldat aus dem Vietnamkrieg in sein Heimatdorf zurück und heiratet kurz darauf die einzig „ebenbürtige“ – weil durch ihr Stottern beeinträchtigte – Frau der Ortschaft. Was als Beziehungsdrama beginnt, entwickelt im Laufe seiner Spielzeit intrigeninduzierte Thriller-Anleihen, um den Zuseher*innen am Ende eine klare, anti-patriarchale Message vorzusetzen. Wohl bekomm’s!


Zwischen Kriegstraumata und Emanzipation: Korea im Umbruch.

Die Entfaltung und Auslebung der weiblichen Sexualität gehört zu den wiederkehrenden Narrativen des koreanischen Films aus dieser Zeit. Zum Beispiel im großartigen „Heavenly Homecoming to Stars“ (1974), wo wir mithilfe von Zeitsprüngen Einblicke in die selten harmonischen Beziehungen der Protagonistin erhaschen. Es handelt sich um eine Frau, die weiß was sie will und daraus auch kein Geheimnis macht. Sie spricht aus, was ihr auf der Zunge liegt. Das hat zur Folge, dass sie von ihren Partnern offensichtlich nicht als vollwertiger Mensch wahrgenommen wird. Vielmehr stellt sie für diese eine Art Spielball dar, ein Objekt zur Befriedigung temporärer Bedürfnisse. In einer Szene erklärt sie, dass sie nicht alleine sein kann und immer einen Mann an ihrer Seite braucht. Sie entschuldigt sich dafür, so eine Art Frau zu sein. Im Kontext des Films verstehen wir, dass sie damit zum einen bedauert, aufgrund ihres „unweiblichen“ Verhaltens, verstoßen zu werden und sich zum anderen trotzdem in ungesunde Abhängigkeiten begibt, weil sie die, nicht zuletzt körperliche, Nähe sucht.


Inszeniert ist der Film abwechselnd als leichtfüßige Komödie oder als Drama über eine von Gewalt betroffene Frau, die ihren Kummer im Alkoholrausch ertränkt. Zeitweise hat man das Gefühl, die koreanische Sexploitation-Version von Godards „Une femme es tune femme“ (1961) zu sehen und in seiner seltsamsten Episode nimmt der Film sogar Züge eines Schauermärchens an. Klare Empfehlung!


"Heavenly Homecoming to Stars" (1974)


Der vermutlich schönste koreanische Film des Jahrzehnts ist allerdings „Night Journey“ (1977) von Kim Soo-yong. Und auch dieser wird gänzlich aus der Sicht einer jungen Frau erzählt, die unter dem gesellschaftlichen Druck steht, heiraten zu müssen. Dabei befindet sie sich in einer – im wahrsten Sinne des Wortes – unbefriedigenden Beziehung mit einem Arbeitskollegen, der nicht nur eine Niete im Bett ist, sondern auch nicht heiraten will. So begleiten wir sie auf nachdenklichen Streifzügen durch Seoul, erfreuen uns an den wunderschönen Bildern, die uns dabei geboten werden und kommen nicht drum rum über sämtliche im Film gezeigten Männer zu lachen, weil diese nicht noch uneleganter dargestellt werden könnten.


Unschuld trifft Landschaftsporno.

The Shower“ (1978) sticht aus dem oben beschriebenen Kanon heraus, weil er fast ausschließlich aus der Sicht zweier Kinder erzählt wird, wobei auch, oder vielleicht sogar gerade hier, mit traditionellen Rollenbildern gespielt wird.


Der Film setzt mit einem fast schon meditativen Opening ein, indem ein Junge mit seiner Kuh durch eine menschenleere Landschaft zieht, wilde Beeren nascht und beim Anblick einer halluzinierten Waldfee vom Baum fällt. Diese fungiert als Foreshadowing, denn auf dem Weg nach Hause begegnet der Junge bereits dem von Seoul in sein Dorf ziehenden Mädchen. Diese ist, im Gegensatz zu anderen Mädchen im Dorf, am liebsten in der Natur und vor allem am hiesigen Fluss – wie unser männlicher Hauptdarsteller auch.


Begleitet wird die unaufgeregt erzählte Liebesgeschichte von schön fotografierten Landschaftsaufnahmen, die in ihrem farblichen Kontrast nicht selten an wohlbekommenden Kitsch grenzen. All das, was die Kinder gerade im Begriff sind zu entdecken, spiegelt sich in der Natur wider: Da blüht es in allen Farben, Pilze schießen aus dem Boden und Insekten kleben aneinander. Die unschuldige Coming of Age-Geschichte trifft auf Landschafts-Pornographie.


Seokee (Lee Yeoung-su) in "The Shower" (1978)


Das schöne an diesem Film – und Coming of Age-Geschichten im Allgemeinen – ist, dass man zwangsläufig Parallelen zu seiner eigenen Kindheit und Jugend zieht, selbst wenn das Gesehene am anderen Ende der Welt und vor mehr als 30 Jahren passiert ist. Und besonders schön finde ich es, wenn ein Film es schafft, mich an Ereignisse aus meinem eigenen Leben zu erinnern, an die ich sonst vielleicht nie wieder gedacht hätte. „The Shower“ hat das geschafft.


Ebenso faszinierend ist aber auch das Gegenteil von Assoziationen zum eigenen Leben – nämlich das Fremde. Auch wenn dieser Sager schon ein alter Hut ist: Das ostasiatische Kino entspricht nicht immer den Sehgewohnheiten eines mitteleuropäischen Publikums, was die Filmerfahrung auch so spannend macht. Und wenn das für die „Koreanische Neue Welle“ gilt, die den Schwapp in die westlichen Kinosäle geschafft hat, dann gilt das umso mehr für die Filme vor dieser neuen Ära.


Wer die Geduld mitbringt, sich auf Filme einzulassen, die mitunter irritieren, weil sie ein anderes Tempo aufweisen und einen beinahe ausufernden Einsatz von Farbe pflegen, oder auch verstören, weil sie radikal auf die soziale Ungleichheit von Geschlechterrollen hinweisen, wird an diesen Filmen großen Gefallen finden.


Lee (Yoon Jeong-hee) in "Night Journey" (1977)


Lust bekommen, in das koreanische Kino vor der Welle zu tauchen? Hier nochmal die Links zu den jeweiligen Filmen auf YouTube:


Woman of Fire (1972)

Woman of Water (1979)

Heavenly Homecoming to Stars (1974)

Night Journey (1977)

The Shower (1978)

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