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POPPIG, PSYCHEDELISCH, PANNONISCH

EIN VOLKSMÄRCHEN GEHT UM DIE WELT: „SON OF THE WHITE MARE“ AM SLASH FILMFESTIVAL


von Daniel Krunz

© SLASH Filmfestival


Da Ungarn gegenwärtig im Hinblick auf freies Kulturschaffen nicht gerade mit den erfreulichsten Meldungen auftrumpft, ist es eine umso willkommenere Nachricht, dass nun zumindest ein historischer Kunstschatz des Landes entstaubt wird und weltweite Beachtung erfährt. „Fehérlófia“, so der melodische Originaltitel von „Son of the White Mare“ (1981), unterzog sich jüngst einer 4K-Restauration seitens des Studios Arbelo Films, und trabt nunmehr in altem Glanz an ein neues Publikum heran.


Es wird jedoch zum Hürdenlauf, denn der neuerliche US Kino-Release, der mit der Aufpolierung angedacht war, ändert sich angesichts der dortigen Lage in eine digitale Distribution. Da aber immerhin das österreichbasierte SLASH Filmfestival stattfinden darf, kann und muss, reagiert dieses natürlich prompt auf die Entwicklung und stellt das Kunstwerk aus der Nachbarschaft in seiner aktuellen Ausgabe aus. Dank des ungebändigten Engagements des deutschen Filmverleihs Drop-Out Cinema, wird der Film aber hoffentlich auch seinen Weg in das ein oder andere Programmkino finden.


Gute Nacht, Ungarn!


Folkloristisches Erzählgut gehört in Ungarn seit jeher zur sprichwörtlichen Kinderstube, und dies nicht nur in mündlicher oder schriftlicher Tradierung, sondern eben auch in audiovisueller Form. Ganze Generationen wuchsen mit der Zeichentrickserie „Magyar Népmesék“ („Ungarische Volksmärchen“) auf, die von 1980-2012 produziert, als Gute Nacht-Geschichte ausgestrahlt wurde. Jede Episode widmete sich einem ausgewählten Märchen; konzipiert, sowie lange auch geschrieben und inszeniert wurde das erfolgreiche Sendeformat von Marcell Jankovics, einem Ausnahme-Animationskünstler, der das Bild dieses Projektes nachhaltig prägte. Jankovics war dem ungarischen Publikum damals schon kein Unbekannter, hatte er doch bereits die beliebte TV-Cartoonserie „Gusztáv“ und ganz nebenbei Ungarns ersten abendfüllenden Animationsfilm „Held János“ (1973) geschaffen, dessen visuelles Design oft mit „Yellow Submarine“ (1968) verglichen wird. Dabei strebte die Literaturverfilmung des gleichnamigen Versepos diese Identifikation gar nicht bewusst an, sondern suchte vielmehr nach einer zu bisherigen Sehgewohnheiten alternativen Darstellungsform mit einem konsistenten Alleinstellungsmerkmal, inspiriert von historischen Kunstgebräuchen.


In recht deutlicher Abgrenzung zu den Gepflogenheiten des internationalen Cartoon-Mainstreams erzählt dann auch „Magyar Népmesék“ in ungleich abstrahierender Ästhetik, Motivtraditionen europäischer Volkskunst adaptierend, seine Geschichten in einem ganz regionalspezifischen Stil, der an lebendig gewordene dekorative Elemente erinnert. Das ungewöhnliche, doch gleichzeitig vertraute Design erwies sich als innovativ genug, um Jung und Alt zu begeistern und rückte die alten Mären in ein neues Licht.


Wäre es allein nach Jankovics gegangen, so würden wir hier nun eine abendfüllende Adaption der Serie besprechen, denn ebenso sah der initiale Plan für sein zweites Langfilmprojekt aus. Unter dem Arbeitstitel „Der endlose Baum“, war eine episodische Anthologie einzelner Märchen vorgesehen, mit der zugrundeliegenden Absicht, den zyklischen Kreislauf der Weltgeschichte zu verdeutlichen. Dieses Vorhaben widersprach jedoch klar der marxistischen Ideologie, die ein lineares Zeitverständnis annimmt, dessen Zielpunkt der Kommunismus darstellt und rief somit bereits in der Anfangsphase die Zensur auf den Plan. Das Konzept musste verworfen werden, stattdessen diktiere man dem Künstler die Umsetzung einer singulären Erzählung aus dem reichhaltigen Fundus der ungarischen Sagenwelt. Jankovics schlug drei Volksmärchen vor, die Wahl fiel auf das wohl bekannteste und verbreitetste unter ihnen, namentlich „Der Sohn der weißen Stute“. Aus den über fünfzig Versionen, die diese Erzählung kennt, kompilierte Jankovics schließlich handverlesene Elemente, um der Welt seine ganz eigene Fassung zu hinterlassen.


Es mag noch so zynisch klingen, doch ohne dieses beherzte Eingreifen der Zensur, wäre das Projekt nicht in jene Bahnen gelenkt worden, die zu einem Klassiker des surrealen Kinos geführt haben. Doch da hier in keinem Fall ein Loblied auf politische Einflussnahme auf die Kunst gesungen werden will, sei folgendes unmissverständlich festgehalten: Zumindest der visuellen Ausgestaltung wurden (kaum) Grenzen gesetzt und Jankovics setzt dem eigenwilligen Design, das er in „Magyar Népmesék“ erprobte, die flammende Krone auf. Was aber noch viel wichtiger erscheint: Der Künstler findet dank begnadeter Improvisationsgabe, allen Widrigkeiten zum Trotz, dennoch einen Weg, um seine Geschichte zu erzählen.


Im Andenken an die skythischen, hunnischen, awarischen und weiteren Völker der Puszta


Schon diese, dem Film vorangestellte Widmung gibt sich betont mystisch, doch die beschwörende Formel ist kein effekthaschendes Lippenbekenntnis, sondern nennt dezidiert die Kulturkreise, aus denen sich die zu folgende Erzählung speist. Ungarische Volksmärchen hängen an einer langen Überlieferungskette, die weit bis in vorchristliche Zeiten reicht und den Sagenschatztruhen ebenjener Zivilisationen entspringt, deren Stränge im Sand der Geschichte verliefen, doch nicht ohne dabei Wurzeln für künftige kulturelle Auswüchse zu schlagen. Diese Wurzeln sprießen aus einem Keim von tiefgründigen Narrativen, denen keine geringere Bedeutung als die Deutung der Welt aus Sicht betreffender Volksmythologien innewohnt. So steckt auch in „Fehérlófia“ mehr als nur ein Märchen, präzise der Erklärungsversuch einer Chronologie der Menschheit, wie sie die synkretistischen Religionen von Ungarns Vorfahren annehmen, die wiederum ihre Weltmodelle in engem Austausch miteinander aushandeln.


Dass seitens der Verantwortlichen ausgerechnet dieses Märchen ausgewählt wurde, präsentiert eine durchaus glückliche Fügung, da Jankovics somit zum zentralen Dingsymbol zurückfindet, in dessen Zeichen das Projekt ursprünglich stehen sollte. Den majestätischen Weltenbaum, Sinnbild des Universums kennt außer den eingangs erwähnten Kulturen auch die nordische Mythologie, und so wie dieser in den Sagen das Himmelszelt stützt, dient er auch dem Film als tragende Säule. Neben dieser Grundfeste gewinnt man auch die plural vertretene Figur der aufopfernden Urmutter, die hier in Gestalt der titelgebenden weiße Stute auftritt.


Als „synkretistisch“ könnte man also auch das Vorgehen beim Komponieren der neuen Mythosfassung charakterisieren, vermengt es doch Konzepte diverser spiritueller Traditionen miteinander, um mit ihnen rückwirkend eine neue Ursprungsgeschichte zu schreiben. Mit der filmischen Auswertung des erwählten Mythos schmiedet Jankovics ein weiteres Glied an seine verzweigte Überlieferungskette, in welchem seinerseits wiederum verschiedene Kulturkomponenten verschmolzen sind und tut somit selbst keine geringere Unternehmung, als einen uralten Schöpfungsmythos mit modernen Mitteln zu transportieren.


Dreimal Drei macht Sieben


Es war einmal eine mächtige Eiche mit 77 Wurzeln und 77 Ästen. Auf den 77 Wurzeln schlummerten 77 Drachen, auf den 77 Ästen saßen 77 Raben. Aus menschlicher Neugier wurde einst die Pforte zur Unterwelt geöffnet und drei der Drachen entführten drei Prinzessinnen, die sich gerade erst mit drei Prinzen vermählten hatten. Die alte Ordnung wurde gestürzt und das Unheil kam über die Welt.


Dieser Geschichte lauscht der Sohn weißen Stute, das einem Pferd geborene Menschenkind und macht sich auf, die sagenhaften Prinzessinnen zu befreien. Auf seiner Reise findet er Verbündete in seinen zwei Brüdern, so beginnt für „Baumreißer“, „Steinzerbrösler“ und „Eisenkneter“, wie die drei Brüder genannt werden, ein Abenteuer, dessen Ziel die Wiederherstellung des irdischen Gleichgewichtes ist.


Das Märchen im Märchen macht vermutlich klar, wie die ihm übergeordnete Unterschlagzeile gemeint ist. Einen ganz wesentlichen Wesenszug ungarischer Volksmärchen, die in der europäischen Sagenwelt Großteils isoliert dastehen, stellt die ausführliche Zahlensymbolik, die sich durch die Erzählungen fädelt. Die Zahlen drei, sieben und zwölf kennt man natürlich auch in anderen Mythologien, doch selten werden diese mit solch Beharrlichkeit, mit dem Stilmittel der Wiederholung verstärkt, derart eingeprägt, wie in der pannonischen Ursprungsmythen.


Diese ohnehin schon sehr dichte Symbolsprache seiner Vorlagen potenziert Jankovics aber noch weiter, begünstigt von der Selektierung der ihm signifikanten Überlieferungselemente, vorangetrieben durch seine darstellerischen Entscheidungen und bannt mit einer komplexen Verschränkung jener Konzepte, gleichsam eine filmgewordene Zauberformel auf die Leinwand. Dreimal sieben Jahre wird Baumreißer von seiner Mutter gesäugt, die drei Brüder verkörpern die drei Tageszeiten und müssen an drei Tagen drei Prüfungen bestehen. Die drei Drachen, mit jeweils drei, sieben und zwölf Köpfen stehen für drei Weltalter und wohnen in drei Burgen mit jeweils drei, sieben und zwölf Türmen.


Animistische Animation


Seinen markenzeichenhaften Animationsstil entwickelte Jankovics wohl nicht ganz zufällig im Rahmen der Auftragsarbeit eines Werbespots für eine indische Fluggesellschaft. Der Reinkarnationsgedanke hat es dem Künstler offenbar angetan und die Idee, dass nichts komplett vergeht, sondern seine Lebensenergie einem Nachfolger spendet, ehe diese letztlich in die Ewigkeit übergeht, wird nunmehr in visueller Interpretation zum Fixpunkt in seinem Schaffen. Diese Vorstellung fährt nun spätestens in seinem zweiten Langfilm zu einer Eigendynamik hoch, die ein visuelles Perpetuum Mobile antreibt, in dem kein Fünkchen Energie verloren geht.


Jedes Bild ist ein pulsierendes Nervenende im Organismus der Gesamtkomposition. Wie in einem kaleidoskopischen Inkarnationsrad gebärt in zirkulierender Metamorphose jede Zeichnung die Nächste und die beständige Rotationsbewegung entwickelt eine hypnotische Sogwirkung. Durchdröhnt von einem tiefergelegten, magnetisch-mantrischen „Om“, verschmelzen, spiegeln und lösen sich die Einstellungen ineinander auf, statt sich durch Schnitte voneinander abzuheben. Alles fließt und dreht sich wie Walzen einer Gebetsmühle, die die ihnen aufgeprägten Zeichen in immer neue Anordnungen, somit Bedeutungen bringt. Im Einklang mit diesen Referenzen an fernöstliche Spiritualität, wählt Jankovics einen künstlerischen Zugang, der wie eine Meditationspraxis funktioniert: hochkonzentriertes Loslassen. Mit dem Motiv der Wiedergeburt öffnet sich auch ganz bildlich ein sinnlicher Unterboden, voller geschlechtlicher Metaphorik. Beständig gehen aus sich spaltenden, vulvaförmige Ornamenten neue Elemente hervor und identifizieren das Organ als Ursprung allen Lebens.


Lokal verjährt, global geehrt


Bei den Lobeshymnen, die wir uns an das Werk nicht verkneifen konnten, überrascht es nun vielleicht, dass ihm bei Erscheinen nicht der erhoffte Erfolg entgegenschlug. Die Besucherzahlen gaben sich bescheiden, so verschwand „Fehérlófia“ vorzeitig aus den Kinos und geriet bis auf Weiteres in relative Vergessenheit. Der Allgemeinplatz „Die Welt war noch nicht bereit dafür“ drängt sich auf, doch im Kontrast zur heimischen, fiel die internationale Rezeption ungleich wohlwollender auf. Entscheidend hierfür ist mitunter wohl die Tatsache, dass das globale Publikum den Film weder an seinem Vorgänger, noch der thematisch verwandten Zeichentrickserie maß und auch nicht den Vergleich zum Ursprungsmythos heranziehen konnte, dessen Neukompilation im Landesinneren oft als willkürlich kritisiert wurde. Stattdessen ließ sich die restliche Welt ganz unvoreingenommen auf das Kunstwerk ein und beurteilte es schlicht als das, was es darstellt, was laut dem Ranking der 1984 abgehaltenen „Animations-Olympiade“ einer der fünfzig besten Animationsfilme aller Zeiten ist.


Geäußerte Kritik bezog sich aber nicht allein auf die Hintergründe, sondern wurde auch ob der unmittelbaren Seherfahrung laut. Am heftigsten stießen sich Rezipient*innen an der Eindimensionalität der zweidimensionalen Figuren und einem mangelnden Identifikationspotential mit dem stoischen Helden. Während derartige Einwände unter anderen Umständen durchaus angebracht wären, verfehlen sie in diesem speziellen Fall aber ihre Angriffspunkte, denen diese Form klar gewollt aufgeprägt, und dem Naturell ihrer Vorlagen nachempfunden ist.


So progressiv die Form, so archaisch ist der Inhalt. Den Figuren bleibt eine Persönlichkeitsentwicklung bewusst versagt, sie sind wie die folkloristischen Masken, nach denen sie modelliert wurden, auf statische Züge festgeschrieben. Der Schlüssel zum Genuss von „Fehérlófia“ liegt in der Akzeptanz dieser archaischen Formelhaftigkeit und dem Verzicht eines Anspruchs auf psychologisierende Charakterzeichnung. Hiermit soll das Kunstwerk aber keineswegs als naiv abgetan werden, denn wie beim mächtigen Weltenbaum, schlummert unter seiner Oberfläche scharfzüngige Feuerkraft. Die minimalistische Beschaffenheit ist ein trügerisches Verwirrspiel und funktioniert als Schleichweg für so manch gegenwartsbezogene Botschaft. Die zerstörerische Kehrseite des technologischen Fortschritts wird ebenso angesprochen, wie das Vergessen alter Ideale; mal in eindeutigem Symbolismus, mal in enigmatischer Andeutung. Zusammen mit der zuvor charakterisierten Zahlenmystik und den sinnlichen Metaphern konstruiert sich so ein vielschichtiges System mit tiefgehender Semantik.


Beschließend nun noch eine Bitte: Lasst Euch von den Beschreibungen ob der symbolischen Tiefe und dem regionalen Bezug um Himmels Willen nicht abschrecken! Für den unbedarften Genuss von „Fehérlófia“ ist keine Vorbildung auf diesen Gebieten von Nöten und die gesendeten Botschaften sind ergänzende Nebeneffekte der sinnlichen Erfahrung, die sich aber auch erst nach und nach in behutsamen Schritten erschließen. Das Leinwandkunstwerk ist natürlich ganz entschieden von seinem Kulturraum gezeichnet, beherbergt aber auch Urgesteine universeller Legenden. Die Schablone der Campbell’schen Idee eines Monomythos, so umstritten sie sein mag, lässt sich flächendeckend auf das Werk anwenden und sämtliche Stationen der Heldenreise lassen sich auch bei strengem Blick durch diese Lupe auf der Checklist abhaken.


Im Vordergrund steht ganz klar das Erlebnis, das man mit sehr gut mit kindlicher Unbefangenheit antreten kann. Schließlich ist die Erzählung ja immer noch ein Märchen und damit in zweierlei Wortsinn etwas Geistiges: intellektuell und zugleich intuitiv. Es ist eine Gute Nacht-Geschichte, die auch bei Erwachsenen nicht ihren Effekt verfehlt und sie wohlig in die Trancewirkung fantastischer Welten wiegt.


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