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Schmerzhafte Fluidität - Zu Julia Ducournaus TITANE

Mit dem unerwarteten Erfolg des Genre-HybridenTitane tut sich neue Hoffnung für radikales Kino auf.

© Stadtkino Filmverleih


von Simon Stockinger


In einen Satz gepackt, klingt es schon sehr abgefahren: Eine Serienmörderin mit Titanplatte im Kopf gibt sich als ein seit Jahren vermisster Junge aus, wird von dessen Vater unter die Fittiche genommen und muss fortan verbergen, dass sie von einem Auto schwanger ist.

Hat sich so oder so ähnlich tatsächlich die Plot-Summary angehört, mit der die französische Regisseurin Julia Ducournau sich an Förderstellen wandte, um die Mittel für ihren zweiten Langfilm zu lukrieren? Wie dem auch sei,Titane wurde nicht nur realisiert, sondern hat im Juli diesen Jahres auch noch die Goldene Palme von Cannes gewonnen. Das war eine große Überraschung, denn der Film ist eine wahre Herausforderung für sein Publikum. Dies betrifft nicht nur den brillant inszenierten Körperhorror, sondern auch die ambivalente Figurenzeichnung, das Unterlaufen von dramaturgischen Konventionen und – vor allem – das radikale Verhandeln von Geschlechterrollen jenseits des neoliberalen Diversity-Mittelmaß.


Male Gaze und Bondage-Autosex


Protagonistin Alexia (Agathe Rousselle) bekommt als Kind, in Folge eines von ihr mitverursachten Autounfalls, eine Titanplatte in die Schläfe implantiert und entwickelt fortan einen amourösen Bezug zu Metall. Jahre später arbeitet sie als Tänzerin bei einer hypermaskulinistischen Automesse. Wir folgen ihr in einer langen Plansequenz und sehen links und rechts sich rekelnde Frauen nebst glitzerndem Chrom und gaffenden Männern. Ducournau inszeniert das sinnlich und schrill in zeitgemäßer Videoclip-Ästhetik. Sie spielt mit dem, was die feministische Filmtheoretikerin Laura Mulvey als Male Gaze bezeichnet hat; die Objektivierung von Frauenkörpern durch ein maskulines Blickregime. Alexia steuert ein Auto an und beginnt zu tanzen. Wir werden als Zuschauer*innen ebenfalls in die Voyeursposition des Male Gaze gebracht, bis der Film damit bricht: Nicht unserem Blick gilt der erotische Tanz, sondern dem Vehikel selbst. Das erfahren wir spätestens, wenn Alexia Bondage-Sex mit der Maschine hat, die dabei im Lowrider-Stil hüpft.


Titane lässt uns dieses eigenwillige Unterlaufen von heteronormativer Objektivierung kurz genießen. Auch Alexias erster Mord kommt – obwohl durchaus grausam – noch im Fahrwasser des popkulturell tradierten Rape-and-Revenge-Musters daher: Ein übergriffiger Typ wird zum Opfer bevor er zum Täter werden kann, wir erfahren Erleichterung. (Die übrigens qua Haarnadel herbeigeführt wird.) Aber Ducournau bleibt bei dieser beruhigenden Trope eben nicht stehen, sondern steigert die Ambivalenz ihrer Figur nochmals heftig, wenn Alexia in einer irrwitzigen Szene ihre angehende Romanze Justine (Garance Marillier) und deren gesamte WG ermordet. Kurz bricht sich gekonnter Genre-Spaß in B-Movie-Manier Bahn. Dann ändert Titane schnell wieder die Richtung.


Körperhorror und Performativität


Julia Ducournau schafft ein Kino der Ambivalenzen und – mehr noch – der Transformationen: Identitäten zerbrechen und entstehen neu. Dieses Thema bestimmte bereits ihr Langfilmdebüt Raw (2016), einen elegant inszenierten Körperhorror-Schocker mit existenzialistischem Coming-of-age-Unterschleif, der in Cannes zum Überraschungserfolg wurde.


Titane nun verbindet dieses Faible für Body-Horror mit Fragen nach Geschlechtlichkeit. Dabei werden unterschiedliche Modelle von Transformation miteinander verwoben: Einerseits zeigt der Film geradezu brillant immer wieder die „Performativität“ (Judith Butler) von Gender, also die auf Zitate und Wiederholungen angewiesene Praxis zur Stabilisierung von Mann-Sein und Frau-Sein.


Nicht nur Alexia performt offenkundig gender-stereotypes Verhalten, sondern das tut auch die überaus witzige Feuerwehrmannschaft, in der sie nach Flucht und Identitätswechsel aufgenommen wird. Deren Rituale werden geradezu liebevoll in Szene gesetzt, wodurch jene homoerotische Theatralik sichtbar wird, die das Männerbündische allgemein kennzeichnet, aber verdrängt werden muss. Ducournau schafft es ohne zu moralisieren diese toxische Männlichkeit ihrer eigenen Widersprüche zu überführen. Am eindringlichsten gerät das in der Szene, als Alexia am Dach eines der Löschfahrzeuge zu tanzen beginnt, wobei der eindeutig männlich lesbare Körper sich langsam in effeminierten Bewegungen zu winden beginnt und damit die libidinöse Bro-Party herausfordert.


Diesem spielerisch-theaterhaften Aspekt stehen körperliche Verwandlungen gegenüber. Und hier zieht der Film alle Register des Body-Horror à la Altmeister David Cronenberg. So tritt Alexia immer wieder Motoröl aus verschiednen Körperöffnungen. Sie deformiert ihr Gesicht, um ihr Äußeres einer Abbildung des vermissten Jungen, dessen Identität sie übernehmen will, anzunähern. Sie bindet sich die Brüste und den wachsenden Bauch ständig schmerzhaft ab, usw. Das ist provokant und verstörend inszeniert und erzeugt durchwegs geradezu körperliche Reaktionen. Von einer spielerischen Fluidität der Geschlechter ist das weit entfernt. Metamorphosen sind hier nur mit Schmerz, Blut und Schleim zu haben; als radikaler Grenzgang und -übertritt. Die Darbietung der nichtbinären Schauspielerin und Autorin Agathe Rousselle ist schlicht atemberaubend.


Auch die zweite Hauptfigur Vincent (Vincent Lindon) – die übrigens völlig entgegen den Regeln des dramaturgischen Mainstream erst nach vierzig Minuten Laufzeit in Erscheinung tritt – repräsentiert einen körperlichen Transformationsprozess, aber unter ganz anderen Vorzeichen. Der etwa 60-jährige Feuerwehrkommandant spritzt sich Anabolika und versucht unter bizarren Qualen an seinem Selbstbild vom starken Anführer festzuhalten. Die grotesken Muskeln halten Trauer und das Altern fern; sie bilden einen „Körperpanzer“, wie der Kulturtheoretiker Klaus Theweleit die Selbsteinsperrung und Abgrenzung der soldatischen Männlichkeit nennt. Vincent versucht sich nicht zu verwandeln, ganz im Gegensteil: Er versucht die Transformation aufzuhalten.


Das Spiel zwischen Alexia und Vincent, diesen unterschiedlichen Modellen von Fluidität und Körperlichkeit, gehört zum komplexesten und berührendsten, was das gegenwärtige Kino in Sachen Beziehungsdarstellung zu bieten hat. Die sich wandelnden Modelle finden zuletzt in einem seltsam hoffnungsvollen Ausblick auf etwas Neues zueinander – im Sinne eines hybriden „New Flesh“ vielleicht, wie die transhumane Metamorphose in Cronenbergs ikonischem Videodrome (1983) heißt.


Manche Filmkritiken haben es sich bezüglich Ducourneaus Cronenberg-Referenzen übrigens zu leicht gemacht, indem sie Titane mit Crash (1996) verglichen haben. Diese Analogie ist zwar naheliegend, wegen der motivischen Verschränkung von Body-Horror, Sexualität und Autos. Aber sie bleibt oberflächlich, wie Marcus Stiglegger und Sebastian Seidler in ihrem wunderbaren Podcast Projektionen – Kinogespräche auseinandersetzen. Denn in Titane geht es letztlich um Liebe. Und es ist dieser (wenn auch verstörende) Optimismus hinsichtlich gelingender Zuneigung, der Titane von der Atmosphäre des steril-todessehnsüchtigen Endzeitkapitalismus in Crash unterscheidet. Titane tut mehr weh und irritiert heftiger, gibt aber auch mehr Hoffnung.


Mit Genre-Immanenz wider Konventionen


Anders als Body-Horror-Altmeister David Cronenberg inszeniert Ducournau ihren Körperhorror nicht mit (psycho-)analytischer Distanz, sondern mit sinnlicher Sogkraft. Dabei verzichtet sie allerdings nicht auf intellektuelle Referenzen – ganz im Gegenteil: Sie ist eine Kino-Denkerin und beruft sich in Interviews etwa explizit auf Sartres und De Beauvoirs Existenzialismus, auf Claude Lévi-Strauss' Anthropologie oder auf ein Verständnis von Identität als Werden nach Gilles Deleuze. Gleichzeitig bedient sie Genre-Elemente und popkulturelle Ästhetiken gekonnt und ohne Avantgarde-Appeal. Man kann zweifellos sagen, dass Titane eine „Parforce-Tour durch die Motive und Bilder der heftigeren B-Movies“ ist, wie Georg Seeßlen schön in der ZEIT fabuliert. Aber dieses Amalgam von Bildern und Motiven wird dann eben doch stets über das Etablierte hinausgetrieben, und zwar nicht von einem ironischen Außen ausgehend, sondern von einer Position der (Genre-)Immanenz. Dadurch entsteht Wucht und eine zwingende Dimension jenseits eingeschliffener Sehgewohnheiten und Erwartungshaltungen. Denn die Hybridität des Films erlaubt es kaum, ihn einzuordnen und damit stillzustellen. Letztlich bleibt ein intellektuelles und verführerisches Werk, das quer zu allen Supermarktfächern der Kulturindustrie liegt. Dies schlägt sich in der Rezeption des Film in verlegenen Wort-Neuschöpfungen nieder: Man liest vom „feministischen Horrorfilm“ (Berliner Morgenpost), von „Gender-Gore“ (Spiegel), vom „genderqueeren Body-Horror-Schocker" (The Guardian). Für solche Festsetzungen ist Titane entweder zu viel oder zu bewegt. Denn parallel zur Transformation der Figuren, transformiert sich auch der Film als Ganzes zu oft und zu heftig – stets dann freilich, wenn gerade spezifische Erwartungen an Erzählkonventionen geweckt wurden. Dieses verführerische Spiel mit Erwartungen und Brüchen lässt den Horizont kalkulierter Irritationen im aktuellen Autor*innen-Kino weit hinter sich.


Julia Ducournaus zweiter Langfilm ist ein Hoffnungsschimmer für radikales Kino, denn sein Erfolg beweist, dass eben nicht nur Plastik-Entertainment oder das well made Arthouse-Drama große Reichweiten erzielen können. Am 4. November startet Titane, der seine Österreich-Premiere am SLASH Filmfestival feiern durfte, in den österreichischen Kinos, unter anderem im frisch renovierten Wiener Gartenbaukino.

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