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THE WORLD TO COME

Durchdringendes Kino von, über und für Liebhaber*innen


von Julian Stockinger

© Viennale International Film Festival


Mona Fastvold erzählt mit ihrem zweiten Spielfilm die tragische, weil de facto unmögliche Liebesgeschichte zweier Frauen im Nordamerika des 19. Jahrhunderts. Dabei entschied sie sich bereits bei der Wahl der Kameratechnik für ein heutzutage eher massenuntaugliches Format: Der gesamte Film ist nämlich auf grobkörnigem 16mm-Material gedreht, womit sie bei Liebhaber*innen offene Türen einrennt, aber hinsichtlich eines breiteren Publikums wohlmöglich auf Unverständnis stößt.


Für Hobby-Dichterin Abigail (Katherine Waterston) und ihren Mann Dyer (Casey Affleck) stellt der Winter des Jahres 1856 eine triste Angelegenheit dar. Neben der Kälte und der beinharten Arbeit, die ihr ärmliches und ländliches Leben mit sich bringt, stirbt ihre junge Tochter an Diphterie. Für Abigail bedeutet das den Verlust sämtlichen Glaubens und das Ersticken von Schmerz in lähmender Alltagsroutine. Das plötzliche Erscheinen von Tallie (Vanessa Kirby) und ihrem Mann Finney (Christopher Abbott) im Ort stellt für Abigail einen Lichtblick dar, zumal sich die zwei Frauen sehr schnell näherkommen und sich gegenseitig Abwechslung von einem Alltag aus harter Arbeit und tristem Eheleben bieten. Ihre auf Gegenseitigkeit beruhende Zuneigung bleibt allerdings nicht lange unbemerkt und sorgt auf Seiten der Männer für reichlich Irritation, bis einer von ihnen beschließt, dass diese Situation kein Zustand bleiben kann.


„I have become my grief“


In „The World to Come“ (2020) begleiten wir die Protagonist*innen über einen Zeitraum von insgesamt neun Monaten, beginnend mit einem menschenunfreundlichen Winter. Auch wenn die Aufnahmen von mit Schnee bedeckten Wäldern und naturbelassener Landschaft eine Wohltat für unsere Augen darstellen, ist es ein leichtes Unterfangen, gleichzeitig den maßlosen Kummer zu begreifen, den das Ehepaar, insbesondere nach dem Ableben ihres Kindes, verspüren muss. Die Natur wird in dieser Jahreszeit nicht als Idyll, sondern als existenzielle Bedrohung verstanden, die später in Form eines beängstigenden Schneesturms zur Überlebensprüfung wird. Diese aus der Story hervorgehende Tristesse wird aber auch durch die gebotenen Bilder unterstrichen. Denn Regisseurin Fastvold entschied sich nicht nur für die Arbeit mit analogem Film, sondern auch noch gegen den Einsatz von künstlichem Licht, was insbesondere in Nachtszenen dunkel-verschwommene Bilder zur Folge hat. Und auch die wirklich herausragende Filmmusik von Daniel Blumberg – ein Name, den wir uns wohl merken sollten – trägt ihr Übriges zur dichten Atmosphäre des Films bei und läutet, passend zu der jeweiligen Phase des Films, entweder Glück oder Unglück, stets famos ein.


Das Glück heißt Tallie und lässt ein wenig auf sich warten, um dann umso vielversprechender in Abigails leben zu treten. Es wäre, in einem zurückhaltenden Film wie diesem, anmaßend von „Liebe auf den ersten Blick“ zu sprechen und trotzdem sagt der erste Augenkontakt der Frauen bereits sehr viel über ihre bis dato hoffnungslosen Sehnsüchte aus. Die Beziehung baut sich langsam auf, wird untermalt von der jetzt optimistischeren, fast märchenhaften Musik von Blumberg und gipfelt in einer geradezu magischen Szene, in denen sie sich zum ersten Mal ihre Gefühle mitteilen. Der darauffolgende Kuss ist vielleicht der aufregendste des Filmjahres 2020.


© Viennale International Film Festival


Erinnerungen an „Portait of a Lady on Fire“ (2019)


Parallelen zum Eröffnungsfilm der Viennale 2019 gibt es selbstredend viele. Die verbotene Liebe zweier Frauen in einem vergangenen Jahrhundert, die wunderschöne und gleichzeitig einschüchternde Landschaft als aktive Akteurin und der sehr bewusste Einsatz von Musik (oder im Fall von „Portait of a Lady on Fire“ auch das sehr bewusste Nichteinsetzen von Musik) sind nur die offensichtlichsten Beispiele dafür. Aber auch die Langsamkeit, die Melancholie und nicht zuletzt die Energie, die von den Hauptdarstellerinnen ausgeht, können es mit dem französischen Film aufnehmen. Insbesondere die Performance von Vanessa Kirby als Tallie kommt in Sachen Intensität an eine Adele Haenel in "Portait of a Lady on Fire" sehr nahe.


Natürlich gibt es aber auch große Unterschiede und einer davon ist, dass es im französischen Film keine nennenswerten männlichen Figuren gibt. In „The World to Come“ spielen sie hingegen ganz essentielle Rollen und tragen dazu bei, dass dem Film nicht einmal im Entferntesten eine Schwarz/Weiß-Sicht unterstellt werden kann. Ohne die beinharte Realität von vor allem queeren Frauen dieser Zeit zu verharmlosen, reicht es dem Film nicht, diese durch die alleinige Präsenz der wohlmöglich autoritären Ehemänner zu erklären. Der Film wird nicht müde zu betonen, dass Frauenfeindlichkeit ein strukturelles Problem ist und hier spielt die Figur von Abigails Mann, hervorragend gespielt von Casey Affleck, eine wesentliche Rolle. Dieser ist nämlich, ganz im Gegensatz zu Tallies Mann, kein kontrollsüchtiger Patriarch, sondern ein emotional instabiler Typ, den eine stetige Traurigkeit umgibt und der seiner Frau verhältnismäßig viele Freiheiten einräumt. Die Ohnmacht bezüglich der (Liebes-) Lebensgestaltung von Frauen geht also immer auch von einer höheren Ebene aus, denn selbst wenn Abigail mit ihrem Mann ganz offen über ihre Homo- oder Bisexualität reden könnte - die damalige Gesellschaft hätte eine offenkundige Auslebung dessen jedenfalls unterbunden.


"It's a good thing that our imagination can always be cultivated."


Während der Film hinsichtlich seiner Liebesgeschichte vor allem Erinnerungen an „Portrait of a Lady on Fire“ wachwerden lässt, erinnert er in seinen düsteren Phasen mitunter an Béla Tarrs dystopisches Alterswerk „The Turin Horse“ (2011), insbesondere wenn gleich am Anfang eine heiße Kartoffel mit der Hand geschält wird. Eine Ambivalenz, die den ganzen Film über spürbar ist und in ihren jeweiligen Spitzen, Reaktionen hervorruft, die vom herzerwärmenden Lachen bis zur niederschmetternden Ernüchterung reichen. „The World to Come“ ist langsam erzähltes, zuweilen hypnotisches Kino von, über und insbesondere für (Film-) Liebhaber*innen.


Im Kino, sobald es wieder Kinos gibt.

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